Die Tage wurden wieder länger, und heller. Dennoch taute der Schnee nur langsam, aber die Vögel zwitscherten schon früh am Morgen und kündigten den nahenden Frühling an. Das Aufstehen, nachdem der Wecker geklingelt hatte, fiel leichter, und trotzdem fühlte sie sich unendlich müde. Doch darüber musste sie sich nicht wundern. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie die letzte Nacht durchgeschlafen hatte. Abends, ganz gleich, wann sie zu Bett ging, konnte sie lange nicht einschlafen und wenn es ihr endlich gelungen war, schreckte sie auf, weil ein furchtbarer Traum sie quälte. Ein Abhang, und der eine Schritt, der sie von ihm trennte. Sie erwachte jedes Mal, bevor sie ihn wagte. Eigentlich führte sie ein behütetes, sicheres Leben. Sie musste keine Angst haben. Sie war seit mehr als 15 Jahren glücklich verheiratet, ihre beiden Töchter waren gesund und erfreuten ihre Eltern mit guten Noten in der Schule. Sie arbeitete schon jahrelang in demselben Büro und wurde von ihren Kollegen geachtet. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, lag friedlich am Waldrand und der Kredit, den sie zur Baufinanzierung aufgenommen hatten, war seit zwei Jahren abbezahlt. Das war der Tatsache zu verdanken, dass Marco, ihr Mann, als Manager sehr gut verdiente. Dafür wünschte sie sich, er wäre häufiger daheim bei ihr und den Kindern. Aber schließlich gingen nicht alle Wünsche in Erfüllung. Sie war nicht egoistisch. Es würde ihm auch guttun, etwas mehr Ruhe in sein Leben zu bringen. Er sah schon seit Wochen sehr blass aus und die dunklen Ränder unter seinen Augen wollten gar nicht mehr verschwinden. Er lächelte kaum noch, und wenn sie redeten, schien er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Sie drückte den Wecker aus, ehe er geklingelt hatte. Sie schaltete das Licht an. Die andere Hälfte des Bettes war leer. Marco war gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Sie zog sich rasch an und rannte die Treppen hinab in die Wohnstube. Alles sah so aus, wie sie es am Abend zurückgelassen hatte. Nur der Anrufbeantworter blinkte. Sie hörte die Nachricht ab. "Es tut mir Leid. Ich werde euch verlassen. Ich kann nicht anders..." Sie ließ den Hörer fallen. Ein Abgrund tat sich vor ihr auf.